Warum erscheint depressiven Menschen die Welt grau?
Auf neuronaler Ebene sind Depressionen durch ein Ungleichgewicht bestimmter Neurotransmitter im Gehirn gekennzeichnet. Die gleichen Moleküle übertragen aber auch anderswo im Körper Signale, so zum Beispiel in der Netzhaut. Eine aktuelle Studie hat die visuelle Wahrnehmung bei Depressionspatienten untersucht und deutliche Unterschiede zu gesunden Menschen gezeigt. Wir haben die Presseerklärung des Herausgebers der Studie vom Juli übersetzt, die ein potenzielles diagnostisches Verfahren beschreibt:
Unabhängig von der Kultur, Sprache, Epoche oder dem einzelnen Künstler werden Depressionen in der Kunst durchweg als Dunkelheit dargestellt. Nun stellen wissenschaftliche Ergebnisse diese symbolische Darstellung von Depressionen auf eine empirische Grundlage und zeigen, dass einem Menschen, der unter Depressionen leidet, wirklich alles grau erscheint.
Die Forscher an der Universität Freiburg hatten bereits gezeigt, dass es Depressionspatienten schwerfällt, Unterschiede bei Schwarz-Weiß-Kontrasten wahrzunehmen.
Für die neue Studie, die in Biological Psychiatry erscheint, benutzen die Wissenschaftler eine Kombination aus neuropsychiatrischen und augenärztlichen Untersuchungsmethoden, um die Reaktion der Netzhaut auf sich ändernde Schwarz-Weiß-Kontraste genau zu untersuchen. Dazu maßen sie insbesondere das Muster-Elektroretinogramm, das wie ein Elektrokardiogramm (EKG) der Netzhaut des Auges ist, bei Patienten mit Depressionen und gesunden Kontrollpersonen.
Die Ergebnisse zeigten eine deutlich geringere Kontrastverstärkung in der Netzhaut von Depressionspatienten, die unabhängig davon war, ob sie Antidepressiva erhielten oder nicht. Außerdem fanden die Forscher einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Kontrastverstärkung und dem Schweregrad der Depressionen, das heißt die Testpersonen mit den schwersten Depressionssymptomen hatten auch die schwächsten Reaktionen in der Netzhaut. Die elektrophysiologischen Signale dieser Reaktionen waren so zuverlässig, dass man daran die meisten Depressionspatienten von gesunden Kontrollpersonen unterscheiden konnte.
„Diese Daten machen deutlich, wie tief greifend die Veränderungen sind, die Depressionen in einem Menschen und seiner Wahrnehmung der Welt hervorrufen”, schreibt Dr. John Krystal, der Herausgeber von Biological Psychiatry, in einem Kommentar. „Der Dichter William Cowper sagte, dass ,Abwechslung dem Leben die entscheidende Würze gibt’, aber wenn Menschen Depressionen haben, können sie die Kontraste in der visuellen Welt weniger gut wahrnehmen. Man kann davon ausgehen, dass dieser Verlust der Welt etwas von ihrer Schönheit nimmt.“
Der Leiter der Studie Dr. Ludger Tebartz van Elst weist darauf hin, dass dies wichtige Ergebnisse sind, die aber noch in weiteren Untersuchungen bestätigt werden müssen. Doch „könnte diese Methode zu einem wertvollen Verfahren werden, um den subjektiven Zustand der Depression objektiv zu messen, und damit weitreichende Konsequenzen für die Erforschung wie auch die klinische Diagnose und Therapie von Depressionen haben.”
Quellen:
Elsevier, 20.7.10
Bubl et al. Biological Psychiatry, Juli 2010
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Rubrik: Depression
Tags: klinische Studie, Neurophysiologie, Umwelt, Wahrnehmung