Was findet bei Magersucht im Kopf statt?
In einem Pressearchiv bin ich auf einen Artikel vom vergangenen Sommer gestoßen, den ich sehr interessant finde. In diesem geht es unter anderem darum, welchen Beitrag die Hirnforschung dazu leistet, die (Hinter-)Gründe für Magersucht – einem weiterhin schwer zu therapierenden Krankheitsbild – zu verstehen. Ich fasse den englischen Beitrag in Auszügen zusammen. Ist dieses Mal ein bißchen länger als sonst, aber es braucht die Länge, sonst versteht man nicht, worum es geht:
Neue Imagingtechniken (das ist vereinfacht gesagt das „Abfilmen der Gehirntätigkeit“ z.B. im Computertomographen) erlauben einen Einblick in die Abläufe im Gehirn von Patienten mit Anorexia nervosa (besser bekannt als Magersucht). In einem online in Nature Reviews Neuroscience veröffentlichten Übersichtsarartikel beschreiben Walter Kaye, MD, Professor für Psychiatrie und Direktor des Forschungsprogramms zu Essstörungen an der University of California, San Diego und seine Mitarbeiter Funktionsstörungen in bestimmten neuronalen Schaltkreisen des Gehirns. Sie könnten helfen zu erklären, warum Menschen überhaupt eine Magersucht entwickeln bzw. was der Hintergrund hinter den typischen Verhaltensweisen ist, wie das schier unermüdliche Streben danach, Gewicht zu verlieren.
Schon in der Kindheit können die Persönlichkeit und das Temperament die Anfälligkeit eines Menschen für die Entwicklung einer Magersucht erhöhen. Diese Faktoren, manche vermutlich ererbt, wie Perfektionismus, Ängstlichkeit oder zwanghafte Neigungen, können bereits vor Beginn einer Essstörung vorhanden sein und in der Jugend unter Umständen durch die Wirkung vieler Faktoren wie Hormonveränderungen, Stress und kulturelle Einflüsse zusätzlich verstärkt werden.
“Das Jugendalter ist eine Zeit des Übergangs, in der jeder Einzelne lernen muss, kurz- und langfristige Bedürfnisse und Ziele in ein Gleichgewicht zu bringen um unabhängig zu werden”, sagt Kaye. “Für Jugendliche kann der Umgang mit gemischten Botschaften und Druck durch die Gesellschaft eine Überforderung darstellen. Dieses kann Wesenszüge wie Ängstlichkeit oder den Wunsch nach Perfektion verschlimmern.“
Wenn ein Patient erst einmal eine Magersucht entwickelt, haben das Hungern und die Fehlernährung tief greifende Auswirkungen auf das Gehirn und andere Organsysteme. Zu diesen Veränderungen gehören neurochemische Ungleichgewichte, die dann wiederum die schon bestehenden Wesenszüge übertrieben verstärken und das Fortschreiten der Erkrankung beschleunigen können.
“Häufig sagen Menschen mit Magersucht, dass Fasten ihre Ängste vermindert während Essen sie verstärkt”, stellt Kaye fest. “Das ist ganz anders als bei den meisten Menschen, die Hunger als etwas Unangenehmes erfahren.” Der machtvolle Trieb, Angst zu vermeiden, treibt bei Anorexia nervosa den Gewichtsverlust voran und löst die unkontrollierte Spirale aus, die schwere Abmagerung und Fehlernährung zur Folge hat.
Außerdem neigen Menschen mit Anorexia nervosa dazu, kaum je “im Augenblick” zu leben. Sie haben oft eine übertriebene und zwanghafte Sorge um die Folgen ihres Verhaltens, sie suchen nach Regeln, wo es keine gibt, und machen sich allzu viele Gedanken darüber Fehler zu begehen. Eine der Mitautorinnen, Julie L. Fudge vom Department of Psychiatry & Neurobiology and Anatomy an der University of Rochester Medical Center, bemerkt dazu: Imagingstudien deuten darauf hin, dass Menschen mit Magersucht ein Ungleichgewicht haben zwischen Abläufen im Gehirn, die Belohnung und Emotionen regulieren (der ventrale oder limbische Schaltkreis) und solchen, die mit Konsequenzen und Vorausplanung assoziiert sind (der dorsale oder kognitive Schaltkreis).
“Imagingstudien des Gehirns zeigen auch, dass Menschen mit Magersucht Veränderungen in den Teilen des Gehirns aufweisen, die mit körperlichen Empfindungen zu tun haben, wie etwa Belohnung durch lustvolles Essen zu verspüren”, so der Mitautor Martin Paulus, Professor für Psychiatrie und Leiter des Laboratory of Biological Dynamics and Theoretical Medicine an der University of California, San Diego. “Magersüchtige könnten es buchstäblich vielleicht gar nicht merken, wenn sie Hunger haben.“
Eine dieser Gehirnregionen ist die sogenannte vordere Insel, die von entscheidender Bedeutung für die Interozeption ist, d.h. für die Eigenwahrnehmung innerer Signale des Körpers. Über das Fehlen einer angemessenen Antwort auf Hungersignale hinaus könnten Symptome der Magersucht – wie ein verzerrtes Körperbild oder eine verringerte Motivation sich zu ändern – auch mit einer gestörten interozeptiven Wahrnehmung zu tun haben.
“Magersucht ist sehr kompliziert, und wir brauchen ein radikales Umdenken beim Verständnis ihrer tieferen Ursache “, sagt Kaye. “Wir stehen erst am Anfang mit unserer Vorstellung davon, wie das Gehirn bei Menschen mit dieser Krankheit funktioniert.”
Kaye merkt jedoch an, dass die Merkmale des Temperaments und der Persönlichkeit, die anfällig für die Entstehung einer Magersucht machen können, auch positive Seiten haben können. Zu diesen Merkmalen gehören eine Liebe zum Detail, Rücksichtnahme auf Konsequenzen und ein Drang etwas mit Erfolg zu Ende zu bringen. “In meiner klinischen Erfahrung“, sagt er „sind viele Menschen, die eine Magersucht überwinden, im späteren Leben durchaus erfolgreich”
Quellen:
University of California, San Diego, 21.7.09
Kaye et al. Nature Reviews Neuroscience, Aug 2009
Verwandte Artikel:
Hängen Essstörungen mit kognitiven Defiziten zusammen?
Woran erkennt man Anorexie (Anorexia nervosa)?
BZGA aktualisiert ihr Info-Angebot zum Thema Essstörungen
Weitere Links:
Wie hilft Psychotherapie bei Essstörungen?
Zur Praxis für Psychotherapie in München
Rubrik: Essstörungen, Hirnforschung
Tags: Magersucht, neuronales Netzwerk, Persönlichkeit, Selbstbild, Wahrnehmung