Unterschätzen wir die Häufigkeit psychischer Krankheiten?
In dem Nachrichtendienst eScience ist vor wenigen Wochen ein guter Beitrag veröffentlicht worden, der eine Studie zum Thema „Wie häufig sind psychische Krankheiten tatsächlich?“ zusammenfasst. Nachfolgend übersetze ich den Beitrag in Auszügen:
Die Häufigkeit von Ängsten, Depression und Anhängigkeit von Substanzen mit einer Wirkung auf die Psyche könnte doppelt so hoch sein, wie Experten für psychische Gesundheit bisher angenommen haben. Das hängt davon ab, wie man sie misst.
Die Psychologen Terrie Moffitt und Avshalom Caspi von der Duke University in den USA haben zusammen mit Kollegen aus Großbritannien und Neuseeland die Daten einer Langzeitstudie an mehr als 1000 Neuseeländern von der Geburt bis zum Alter von 32 Jahren ausgewertet. Dabei kamen die Autoren zu dem Schluss, dass Leute die Häufigkeit ihrer geistig-seelischen Erkrankungen als viel zu niedrig angeben, wenn man sie Jahre danach zu ihrer Gesundheitsgeschichte befragt.
Aber solche Antworten auf Fragen aus der persönlichen Erinnerung heraus bilden die Grundlage für den Großteil unseres Wissens darüber, wie weit verbreitet Ängste, Depression und Abhängigkeit von Alkohol oder Marihuana sind. Langzeitstudien, wie die in der Stadt Dunedin in Neuseeland, die Menschen über Jahre hindurch beobachten, sind selten und kostspielig, erklärt Moffitt.
„Wenn man mit einer Gruppe von Kindern beginnt und sie ihr ganzes Leben lang beobachtet, wird früher oder später fast jeder an einer dieser Störungen erkranken”, sagt Moffitt, der Knut Schmitt-Nielsen-Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der Duke University ist.
Die Great-Smoky-Mountains-Studie, ein ähnliches Projekt an der Duke University, hat 1400 amerikanische Kinder seit dem Alter von 9 bis 13 in ihre späten Zwanziger Lebensjahre mitverfolgt und ähnliche Verhaltensmuster gefunden, sagt Jane Costello, die Professorin für Medizinische Psychologie an der Duke University ist und diese Untersuchung leitet.
„Ich glaube, wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass geistig-seelische Erkrankungen in Wirklichkeit sehr weit verbreitet sind”, meint Costello. „Menschen wachsen mit Störungen auf, werden nicht behandelt und kommen dann im Leben nicht so gut zurecht, wie sie es eigentlich könnten, weil wir das ignoriert haben.”
Darüber, wie weit verbreitet geistig-seelische Erkrankungen sind, wird seit Jahren unter politischen Entscheidungsträgern und Anbietern der Gesundheitsversorgung für psychisch Kranke heftig gestritten. Auch die pharmazeutische Industrie und die Krankenversicherungen haben ein wirtschaftliches Interesse an der Debatte, sagt Moffitt.
Die besten retrospektiven Untersuchungen (systematische Analysen von Krankengeschichten), die US National Comorbidity Surveys (NCS) und die New Zealand Mental Health Survey, haben bei Umfragen unter Menschen im Alter von 18 bis 32 Jahren eine Depressionsrate von 18 Prozent festgestellt. Diese Studien sind jedoch von manchen Experten heftig kritisiert worden, weil sie die Raten für zu hoch halten. Die letzte Auswertung der Dunedin-Studie kam zu dem Ergebnis, dass in dieser Altersgruppe schon 41 Prozent der Befragten irgendwann einmal an klinisch relevanten Depressionen erkrankt gewesen waren.
Die Studien durch Umfragen bei 18- bis 32-Jährigen haben ähnliche lebenslange (d.h. auf das ganze Leben hoch gerechnete) Raten von 6 bis 17 Prozent für Alkoholabhängigkeit ergeben, verglichen mit nahezu 32 Prozent in der Dunedin-Studie.
Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) ist eine Sammlung von Richtlinien, die verbindliche Standards festlegen, was eine behandelbare psychische Erkrankung ist und was nicht. Das DSM wird von der American Psychiatric Association herausgegeben, die diese Standards zurzeit überprüft und auf den neusten Stand bringt. Aber angesichts der Ergebnisse dieser Langzeitstudien könnte man die Strenge der diagnostischen Kriterien direkt noch einmal überdenken, meint Moffitt, der dem Komitee angehört, das die neuen Standards (DSM-V) ausarbeitet.
„Forscher könnten nun vielleicht überlegen, warum so viele Menschen mindestens einmal im Leben unter solch einer Erkrankung leiden, und was das für unsere Definition von psychischer Gesundheit bedeutet, das Angebot des Gesundheitswesens und die wirtschaftliche Belastung durch psychische Krankheiten“, sagt Moffitt.
Einerseits könnte man meinen, dass die diagnostischen Standards zu niedrig angesetzt sind, wenn man so viele Menschen als psychisch krank betrachten kann. Andererseits könnten diese Ergebnisse Anlass sein, mehr und bessere Gesundheitsdienste für psychisch Kranke zu fordern, weil die Erkrankungen häufiger sind als wir bisher dachten.
„Hier stehen sich zwei Lager gegenüber, aber ich will mich da nicht festlegen“, sagt Moffitt.
Zu aller mindest könnten diese Ergebnisse zum Abbau des Stigmas beitragen, den psychische Krankheit und Gesundheitsdienste haben, die sich darum kümmern, fügt Moffitt an. So wurde zum Beispiel in Neuseeland kürzlich eine Werbekampagne für Dinge von öffentlichem Interesse gestartet, in der allseits beliebte Sportler sagen, dass sie früher einmal psychische Probleme hatten.
„Wenn wir dieses Problem ernst nehmen, müssen wir auch mit der Vorsorge dagegen ernst machen“, fügt Costello an. „Jetzt wissen wir viel besser, was zur Vorbeugung zu tun ist.“
Quelle:
Duke University, 10.9.09
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Rubrik: Angst- & Panikstörung, Depression, Sucht/Substanzmissbrauch, Verhaltenstherapie
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