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Lässt sich Drogenabhängigkeit durch mangelnde Plastizität des Gehirns erklären?

10. Juli 2010

Lässt sich Drogenabhängigkeit durch mangelnde Plastizität des Gehirns erklärenNur relativ wenige Leute (15 Prozent), die Kokain „benutzen“, werden auch im Wortsinne „süchtig“. Warum das so ist, bleibt unklar. Mit einer aktuellen Studie sind Forscher aus Frankreich der Antwort einen Schritt näher gekommen, denn sie konnten einen Gehirnmechanismus identifizieren, der bei einem kontrollierten Gebrauch von Kokain eine entscheidende Rolle spielt. Wir haben die Presseerklärung des Instituts zu der Studie von Ende Juni übersetzt, die einen möglichen neuen Ansatz zur Suchttherapie bietet:

Warum werden nur manche Drogenkonsumenten süchtig? Diese Frage haben die Teams von Pier Vincenzo Piazza und Olivier Manzoni am Neurocentre Magendie in Bordeaux (Unité INSERM 862) untersucht. Die Forscher entdeckten, dass der Übergang zur Sucht die Folge einer bleibenden Störung der synaptischen Plastizität in einer entscheidenden Struktur des Gehirns sein könnte. Dies ist der erste Nachweis, dass es einen Zusammenhang zwischen synaptischer Plastizität und dem Übergang zur Sucht gibt.

Die Ergebnisse der Teams vom Neurocentre Magendie stellen die bisherige Vorstellung infrage, dass Sucht durch pathologische Veränderungen im Gehirn verursacht wird, die sich beim Drogenkonsums mit der Zeit entwickeln. Die Ergebnisse zeigen stattdessen, dass Sucht von einer Art der „Anaplastizität” herrühren könnte, das heißt von einer Unfähigkeit des Suchtkranken, die pathologischen Veränderungen auszugleichen, die Drogen bei allen hervorrufen, die sie nehmen.

Die Studie wurde in der Juniausgabe des Journals Science veröffentlicht.

Der freiwillige Konsum von Drogen ist ein Verhalten, dass bei vielen Spezies des Tierreichs verbreitet ist. Aber man dachte lange, dass Sucht, die als ein zwanghafter und pathologischer Drogenkonsum definiert ist, ein Verhalten ist, das für die Spezies Mensch und ihre Sozialstruktur spezifisch ist. Das Team von Pier Vincenzo Piazza konnte 2004 zeigen, dass das charakteristische Suchtverhalten von Menschen auch bei manchen Ratten beobachtet werden kann, die sich Kokain freiwillig selbst verabreichen. Die Sucht bei Menschen und Ratten weist erstaunliche Ähnlichkeiten auf, insbesondere die Tatsache, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Konsumenten (Menschen wie Nager) eine Drogensucht entwickelt. Daher eröffnete die Studie drogenabhängigen Verhaltens in diesem Säugetiermodell die Möglichkeit, die Biologie der Sucht zu untersuchen.

Für die aktuelle Studie arbeiteten die Teams von Pier Vincenzo Piazza und Olivier Manzoni zusammen und beschreiben nun zum ersten Mal biologische Mechanismen für der Übergang von einem regelmäßigen aber kontrollierten Drogenkonsum zu einer echten Kokainsucht, die sich durch den Verlust der Kontrolle über den Drogenkonsum auszeichnet.

Chronischer Drogenkonsum führt zu zahlreichen Veränderungen in der Physiologie des Gehirns. Aber welche dieser Veränderungen ist für die Entwicklung einer Sucht verantwortlich? Die Forscher suchten nach einer Antwort auf diese Frage, um gezielt potenzielle Therapiemethoden für eine Krankheit zu entwickeln, für die es entsetzlich wenige Behandlungsmöglichkeiten gibt.

Das Suchtmodell, das in Bordeaux entwickelt wurde, bietet eine einzigartige Möglichkeit, diese Frage zu beantworten. Denn das Modell erlaubt es, Tiere zu vergleichen, die eine identische Drogendosis erhalten, obwohl nur wenige von ihnen süchtig werden. Die Teams von Pier Vincenzo Piazza und Olivier Manzoni verglichen süchtige und nichtsüchtige Tiere, während sie über einen längeren Zeitraum Drogen konsumierten.

Die Ergebnisse zeigten, dass sich die Tiere, die eine Kokainsucht entwickelten, durch einen dauerhaften Verlust einer Art der neuronalen Plastizität auszeichneten, die als Langzeit-Depression (oder LTD) bezeichnet wird. Darunter versteht man die Fähigkeit der Synapsen (der Teil der Zelle, über den Nervenzellen miteinander kommunizieren), ihre Aktivität unter dem Einfluss bestimmter Reize zu vermindern. Dieser Mechanismus spielt eine entscheidende Rolle bei der Fähigkeit, neue Gedächtnisinhalte zu speichern und daher sich flexibel verhalten zu können.

Nach kurzzeitigem Gebrauch von Kokain ist die LTD unverändert. Bei längerem Gebrauch entwickelt sich jedoch bei allen Konsumenten ein erhebliches LTD-Defizit. Ohne diese Art der neuronalen Plastizität, die eine Voraussetzung für das Lernen ist, wird das Verhalten des Drogenkonsumenten immer unflexibler und er beginnt, ein zwanghaftes Konsumverhalten zu entwickeln. Bei der Mehrheit der Konsumenten funktionieren die biologischen Anpassungsmechanismen, mit denen das Gehirn der Wirkung der Droge entgegensteuern und eine normale LTD wiederherstellen kann. Dagegen führt die Anaplastizität (oder Mangel an Plastizität) bei Drogensüchtigen dazu, dass dieser Schutzmechanismus fehlt, und das LTD-Defizit, das die Droge hervorgerufen hat, wird chronisch.

Dieser dauerhafte Verlust synaptischer Plastizität könnte erklären, warum der Süchtige bei seinem Verhalten auf der Suche nach der Droge äußere Widerstände (Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Droge, negative Auswirkungen des Drogenkonsums auf die Gesundheit, das Sozialleben etc.) ignoriert und deshalb sein Verhalten immer zwanghafter wird. So verliert er nach und nach die Kontrolle über den Drogenkonsum und wird süchtig.

Nach Meinung von Pier Vincenzo Piazza und seinen Mitarbeitern lassen diese Ergebnisse auch wichtige Schlussfolgerungen für die Entwicklung neuer Methoden der Suchttherapie zu. „Wahrscheinlich werden wir keine neuen Therapien finden, indem wir versuchen, die Veränderungen zu verstehen, die Drogen im Gehirn von Süchtigen hervorrufen”, erklären die Forscher, „denn ihr Gehirn ist anaplastisch.” Die Autoren schreiben, „Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, dass wir den Schlüssel zu einer wirklichen Suchttherapie wahrscheinlich im Gehirn der nichtsüchtigen Konsumenten finden werden.”

Die Autoren glauben, „Wenn wir die biologischen Mechanismen verstehen, die eine Anpassung an die Droge ermöglichen und dem Konsumenten helfen, ihren Gebrauch weiter zu kontrollieren, könnten wir vielleicht den anaplastischen Zustand behandeln, der zur Sucht führt.”

Quellen:

INSERM, 24.6.10

Kasanetz et al. Science, Juni 2010

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Rubrik: Hirnforschung, Sucht/Substanzmissbrauch
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