skip to content

Was bringt uns weiter: Wettbewerb oder Mitgefühl?

30. Dezember 2009

compassion s sMehrere neue Studien amerikanischer Psychologen zeigen, dass der Mensch von Mitgefühl und selbstlosen Verhaltensweisen auch Vorteile für sich hat, zum Beispiel bei der Fürsorge für seine Kinder. Ich habe einen Presseartikel der Universität vom 8.12. übersetzt, der ein ganzes Forschungsprogramm beschreibt und etwas länger ist. Er kommt zu dem Schluss, dass Mitgefühl angeboren und der stärkste Instinkt des Menschen ist:

Forscher an der University of California in Berkeley stellen den lange vorherrschenden Glauben infrage, dass der Mensch darauf programmiert ist egoistisch zu sein. In Untersuchungen auf ganz verschiedenen Gebieten tragen Sozialwissenschaftler immer mehr Daten zusammen, die zeigen, dass sich der Mensch in seinem Drang zu überleben und gedeihen zu einer Spezies entwickelt, die immer mitfühlender wird und besser füreinander arbeitet.

Im Gegensatz zur Interpretation von Charles Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Auslese als „Jeder ist sich selbst der Nächste“ sammelt Dr. Dacher Keltner, ein Psychologe an der UC Berkeley und Autor des Buches „Born to be Good: The Science of a Meaningful Life“ gemeinsam mit anderen Sozialwissenschaftlern Beweise für eine andere These: Der Mensch ist als Spezies gerade deshalb erfolgreich, weil er die Fähigkeit hat, fürsorglich, uneigennützig und mitfühlend zu handeln hat.

Sie nennen es „Der Netteste überlebt.“

„Da sein Nachwuchs äußerst verwundbar ist, wird die Sorge des Menschen für andere zur grundlegenden Aufgabe für sein Überleben und die Fortpflanzung seiner Gene“, sagt Dr. Keltner, einer der Direktoren des Greater Good Science Center an der UC Berkeley. „Wir Menschen haben als Spezies überlebt, weil wir die Fähigkeit entwickelt haben, uns um Hilfebedürftige zu kümmern und zusammenzuarbeiten. Wie es Darwin schon vor langer Zeit vermutet hat, ist das Mitgefühl unser stärkster Instinkt.“

Das Mitgefühl liegt uns in den Genen

Dr. Keltners Team hat begonnen zu untersuchen, wie die Fähigkeit des Menschen zur Fürsorge und Zusammenarbeit in bestimmten Gehirnregionen und im Nervensystem verschaltet sein könnte. Eine seiner neusten Studien zeigte deutlich, dass manche Menschen eine genetische Veranlagung zu einem größeren Einfühlungsvermögen für andere haben.

Die Studie, die Dr. Sarina Rodrigues von der Oregon State University in den USA und die Doktorandin Laura Saslow von der UC Berkeley durchführten, stellte fest, dass Menschen mit einer bestimmten Variante des Gens für das Oxytocinrezeptor-Protein in psychologischen Tests den Gefühlszustand anderer besser wahrnehmen können und unter Anspannung weniger gestresst reagieren.

Oxytocin (umgangssprachlich auch „Kuschelhormon“) wird überwiegend im Gehirn gebildet und auch ins Blut abgegeben. Es hat verschiedene Funktionen und beeinflusst das menschliche Verhalten, unter anderem indem es soziale Interaktionen, Fürsorge und das Verliebtsein fördert.

„Die Neigung zu mehr Einfühlungsvermögen könnte auf dem Einfluss eines einzigen Gens beruhen“, sagt Dr. Rodrigues, deren Studie jetzt in dem renommierten Journal PNAS (2009) veröffentlicht wurde.

Freigebigkeit hebt den sozialen Status

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass zwischenmenschliche Bindungen und soziale Interaktion ein Menschenleben gesünder und sinnvoller machen können. Aber manche Forscher der UC Berkeley stellen die weitergehende Frage, „Wie sichern diese Charakterzüge unser Überleben und heben unseren Status bei unseren Mitmenschen?“

Eine Antwort ist laut Dr. Robb Willer, einem Sozialpsychologen und Soziologen an der UC Berkeley, dass großzügige Menschen bei anderen mehr Respekt und Einfluss genießen. In einer neueren Studie gaben Dr. Willer und sein Team Testpersonen eine bescheidene Menge Bargeld und ließen sie unterschiedlich komplexe Gesellschaftsspiele spielen. Das Ziel dieser Spiele war dem „Gemeinwohl“ zu dienen. Die Studie wurde in dem Fachjournal American Sociological Review veröffentlicht und zeigte, dass großzügiger handelnde Teilnehmer von ihren Mitspielern mit mehr Geschenken, Respekt und Zusammenarbeit honoriert wurden und einen größeren Einfluss auf sie hatten.

„Die Ergebnisse zeigten, dass jeder, der nur streng im eigenen Interesse handelt, gemieden, verachtet, ja sogar gehasst wird“, sagt Dr. Willer. „Aber die Leute, die sich anderen gegenüber großzügig verhalten, werden von ihren Mitspielern am meisten geachtet und damit steigt ihr Status.“

„Wenn man bedenkt, wie viel man von Großzügigkeit profitiert, stellen sich Sozialwissenschaftler immer weniger die Frage, warum Menschen großzügig sind, sondern mehr, warum sie überhaupt jemals egoistisch sind“, fügt er an.

Kinder sind die Zukunft

Solche Ergebnisse bestätigen die von Pionieren der „positiven Psychologie“ wie Prof. Martin Seligman von der University of Pennsylvania in den USA, dessen Forschungsschwerpunkt sich Anfang der neunziger Jahre von psychischen Erkrankungen und Funktionsstörungen weg verlagerte, und der sich stattdessen dem Geheimnis der seelischen Belastbarkeit und des Optimismus bei Menschen widmet.

Während sich in den USA ein Großteil der Forschung auf dem Gebiet der positiven Psychologie auf die Erfüllung und das Glück des Einzelnen konzentriert, untersuchen Forscher an der UC Berkeley vor allem, wie es zum Wohl der Allgemeinheit beiträgt.

Ein Erfolg dieser Arbeit ist das Greater Good Science Center auf dem Campus der UC Berkeley, das an der amerikanischen Westküste zu einem Magneten für die Forschung über Dankbarkeit, Mitleid, Selbstlosigkeit, Ehrfurcht und gute elterliche Fürsorge geworden ist, und zu dessen finanziellen Unterstützern das Metanexus Institute, Tom und Ruth Ann Hornaday und die Quality of Life Foundation gehören.

Dr. Christine Carter ist die Geschäftsführerin des Greater Good Science Centers und hat die Internetseite „Science for Raising Happy Kids“ ins Leben gerufen, zu deren Zielen unter anderem die Unterstützung und Förderung von Eltern bei der Erziehung von Kindern gehört, die die „emotionalen Grundregeln“ beherrschen. Damit meint sie die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und die anderer zu verstehen und mit ihnen umzugehen. So setzt Dr. Carter gründliche Forschung in praktische Erziehungsratschläge für Eltern um. Sie sagt, viele Eltern kehren materialistischen und am Wettbewerb orientierten Aktivitäten den Rücken und denken neu darüber nach, womit sie ihren Familien wahres Glück und Wohlergehen schenken können.

„Ich habe festgestellt, wenn Eltern anfangen, bewusst die Dankbarkeit und Großzügigkeit ihrer Kindern zu kultivieren, sehen sie schnell, wie viel glücklicher und belastbarer ihre Kinder werden“, sagt Dr. Carter. Sie ist die Autorin des Buches „Raising Happiness: 10 Simple Steps for More Joyful Kids and Happier Parents“, dass ab Februar 2010 in den Buchläden zu haben sein wird. „Eltern sind oft überrascht, wie viel glücklicher auch sie selbst dadurch werden.“

Der Touch des Mitgefühls

Bei Collegestudenten hat der Psychologe Dr. Rodolfo Mendoza-Denton von der UC Berkeley festgestellt, dass Bekanntschaften zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen und ethnischer Herkunft die soziale und akademische Erfahrung des Campuslebens bereichern können. In einer Studie, deren Ergebnisse im Journal of Personality and Social Psychology veröffentlicht wurden, lernten sich weiße und Latinostudenten mit starken Rassenvorurteilen bei mehreren Treffen zu zweit besser kennen. Dabei sanken nach und nach ihre Spiegel von Cortisol, einem Hormon, das bei Stress und Angst gebildet wird. Auch nach dem Ende des Experiments kamen diese Studenten auf dem Campus besser mit Menschen anderer Rassen aus.

In einer weiteren Studie (Hertenstein et al., Emotion 2006) von Psychologen der DePauw University in den USA und der UC Berkeley versuchten Menschen, die durch einen undurchsichtigen Vorhang voneinander getrennt waren und nicht reden durften, sich Gefühle mitzuteilen. Dabei steckte der „Decoder“ seinen Arm durch den Vorhang und der andere (der „Encoder“) berührte seinen Arm, um ihm unterschiedliche Gefühle mitzuteilen. Neben leicht zu erratenden Gefühlen wie Ärger (zum Beispiel hauen) und Ablehnung (wegschubsen) konnte der Decoder die Emotionen Mitgefühl, Liebe und Dankbarkeit erraten, nicht jedoch die eher selbstorientierten Gefühle Verlegenheit, Neid oder Stolz. Dabei konnte der Decoder durch Berührung ausgedrückte „nette“ Gefühle ähnlich zuverlässig erraten wie (in anderen Studien) anhand des Gesichtsausdrucks.

„Menschen sind von Kopf bis Fuß auf Mitgefühl programmiert, und Berührung kann es von einem auf den anderen übertragen“, sagt Dr. Keltner.

Das gilt auch für kleinere Säugetiere. Dr. Darlene Francis, eine Psychologin der UC Berkeley, und Michael Meaney, Professor für Biologische Psychiatrie und Neurologie an der McGill University in Kanada, stellten in einer Reihe von Studien fest, dass Rattenbabys, die von ihren Müttern geleckt, geputzt und allgemein versorgt werden, verminderte Spiegel von Stresshormonen haben. Auch als erwachsene Tiere bleiben diese Ratten auf Dauer weniger stressanfällig als Tiere, deren Mütter sich nicht gut um sie gekümmert hatten.

Insgesamt stellen diese und andere Ergebnisse der UC Berkeley die Auffassung infrage, dass nette Menschen ihr Leben lang zu kurz kommen. Stattdessen sprechen sie für die Hypothese, dass der Mensch bei entsprechender Erziehung und Unterstützung eher zu Mitgefühl neigt.

„Diese neue Wissenschaft von der Selbstlosigkeit und den physiologischen Grundlagen des Mitgefühls werfen ein neues Licht auf die Beobachtung, die Darwin vor fast 130 Jahren machte, dass Mitgefühl der stärkste Instinkt des Menschen ist“, sagt Dr. Keltner.

Quellen:

UCBerkeleyNews, 8. Dez 2009

Rodriguez et al. PNAS, Dez 2009

Hertenstein et al. Emotion, 2006

Verwandte Artikel:

Kann ehrenamtliche Tätigkeit das kognitive Altern verlangsamen?

Machen Kinder glücklich?

Macht Konsum glücklich?

Sind Menschen “von Natur aus” optimistisch?

Weitere Links:

Zur Praxis für Psychotherapie in München

Zur Praxis für Psychotherapie in Düsseldorf

Zur Praxis für Psychotherapie in Berlin-Charlottenburg

Zur Praxis für Psychotherapie in Frankfurt

Rubrik: Glücksforschung, Mensch & Gruppe
Tags: , , ,


3 Kommentieren

  1. c. fuhrhans
    Januar 6th, 2010

    das sind ganz toll dargestellte artikel. eine enorme arbeit, die Sie sich da immer machen. glückwunsch zu diesem blog (den ich mittlerweile regelmässig lese) und weiter so!

  2. admin
    Januar 7th, 2010

    Danke 🙂

  3. „Ballauff mal anders“ I « Bildungswissenschaft (Bachelor)
    Mai 12th, 2010

    […] [Was bringt uns weiter: Wettbewerb oder Mitgefühl?] […]

Zurück zum Anfang