Sind bei Gedächtnisverlust auch die Emotionen verloren?
Wie viel bekommen Demenzkranke von ihrem Leiden noch mit? Mehr als man denkt, wie eine aktuelle Studie zeigt, die das Gedächtnis der Patienten für Emotionen mit dem für Fakten verglich. Wir haben einen Presseartikel von Medical News Today von letzter Woche zu der Studie übersetzt, deren Ergebnisse weitreichende Schlüsse für die Praxis der Patientenpflege nahelegen:
Eine neue Studie aus den USA an Patienten mit schwerem Gedächtnisverlust zeigt, dass Emotionen, die von Erlebnissen ausgelöst werden, länger fortbestehen können als die Erinnerung an das tatsächliche Geschehen. Die Forscher hoffen, dass ihre Ergebnisse zu einem besseren Verständnis von Alzheimer und ähnlichen Erkrankungen beitragen werden, aber auch eine Ermutigung für Betreuer und Familienangehörige sind. Denn sie können wissen, dass ihre Patienten und Verwandten die Wärme von Besuchen und Gesprächen noch weiter spüren, auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern.
Die Studie der Wissenschaftler von der University of Iowa in den USA erscheint in der Aprilausgabe der Proceedings of the National Academy of Sciences, PNAS.
Justin Feinstein, der erste Autor der Studie und Doktorand der Neuropsychologie an der University of Iowa sagt:
„Ein einfacher Besuch oder Telefonanruf von Verwandten kann einen bleibenden positiven Einfluss auf das seelische Wohlbefinden des Patienten haben, auch wenn er vielleicht den Besuch oder den Anruf als solchen schnell vergisst.”
Aber dann beschreibt er auch die Kehrseite:
„Andererseits kann auch Vernachlässigung durch Pflegepersonal in Heimen, wenn sie zur Gewohnheit wird, bei Patienten Gefühle von Trauer, Enttäuschung und Einsamkeit hinterlassen, obwohl der Patient nicht mehr weiß, woher sie kommen“, sagt Feinstein.
Feinstein und seine Mitarbeiter untersuchten fünf Patienten mit einer seltenen Form von Gedächtnisverlust, die durch einen Schaden im Hippocampus, einer Gehirnregion, verursacht wird, sodass sie neue Erinnerungen nicht mehr behalten können.
Der Hippocampus spielt eine entscheidende Rolle beim Transfer von Erinnerungen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis und ist eine der Gehirnregionen, wo bei Alzheimer-Kranken die Schäden zuerst auftreten.
Für die Studie spielten die Forscher den Patienten kurze Ausschnitte von traurigen und fröhlichen Filmen vor. Aber obwohl sie sich an Details der Filme nicht erinnern konnten, blieben die Gefühle erhalten, die die Handlung bei ihnen auslöste.
Jeder Patient sah sich zwanzig Minuten lang einen traurigen Film an. Dann testeten die Forscher sein Gedächtnis und seine Stimmung. An einem anderen Tag sah er sich zwanzig Minuten einen fröhlichen Film an, gefolgt von den gleichen Tests.
Die Forscher beobachteten, wie die Filme bei den Patienten die erwarteten Emotionen auslösten, die von laut Auflachen bei fröhlichen bis zu Tränen bei traurigen Filmen reichten.
Etwa zehn Minuten nach Ende eines Filmclips testeten Feinstein und seine Mitarbeiter das Tatsachengedächtnis der Patienten, um zu sehen, an wie viel sie sich noch erinnern konnten.
Jemand mit einem normalen Gedächtnis hätte sich an ungefähr dreißig Details aus jedem Filmclip erinnern sollen, aber diese Patienten hatten schwere Gedächtnisstörungen: ein Patient konnte sich an kein einziges Detail mehr erinnern.
Dann stellten sie den Patienten weitere Fragen, um ihren Gefühlszustand zu untersuchen.
Feinstein sagt, dass sie immer noch das gleiche Gefühl wie während des Films empfanden und, dass „Trauer oft etwas länger anhielt als Freude, aber beide Emotionen hielten sich deutlich länger als die Erinnerung an die Filme.”
„Bei gesunden Menschen kann man sehen, wie Gefühle mit der Zeit verblassen. Aber bei zwei dieser Patienten verblassten sie nicht. Im Gegenteil, sie blieben noch lange weiter traurig“, fügt er hinzu.
Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass ihre Ergebnisse zeigten, wie „positive und negative Gefühlserfahrungen unabhängig von einem expliziten Gedächtnis für das Ereignis, das sie ausgelöst hat, fortbestehen können.” Weiter sind sie „ein direkter Beweis dafür, dass ein Gefühlszustand länger anhalten kann als die bewusste Erinnerung an die Ereignisse, die ihn ursprünglich ausgelöst haben.“
Diese Ergebnisse scheinen der gängigen Vorstellung zu widersprechen, dass bei einem Verlust schmerzlicher Erinnerungen auch das damit verbundene emotionale Leiden aufhört. Vielmehr machen sie deutlich, wie wichtig es ist, sich um die Bedürfnisse von Menschen mit Alzheimer zu kümmern.
Nach einem Bericht von Alzheimer’s Disease International (ADI) von 2009 werden dieses Jahr weltweit fünfunddreißig Millionen Menschen an Demenz erkranken. Man nimmt an, dass sich diese Zahl alle zwanzig Jahre nahezu verdoppeln und bis 2050 auf 115,4 Millionen anwachsen wird.
„Der größte Risikofaktor für Alzheimer ist das Alter eines Menschen, und bis jetzt ist die Krankheit unheilbar“, sagt Feinstein.
„Uns steht eine regelrechte Epidemie bevor. Es wird mehr und mehr alte Menschen aus den geburtenstarken Jahrgängen geben und mehr und mehr Menschen mit Alzheimer. Auf die Gesellschaft kommt dann die enorme Aufgabe zu, sich um diese Leute zu kümmern”, meint er und fordert:
„… wir müssen neue Standards für die Pflege von Patienten mit Gedächtnisstörungen setzen, die auf wissenschaftlichen Fakten beruhen. Unsere Ergebnisse sind ein klarer Beweis, dass die Gründe für einen respektvollen und menschenwürdigen Umgang mit Alzheimer-Patienten über einfache moralische Argumente hinausgehen.“
Quellen:
Medical News Today, 13. April 2010
Feinstein et al. Proceedings of the National Academy of Sciences, April 2010
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Rubrik: Alter
Tags: klinische Studie, Umwelt, Verhaltensforschung, Wahrnehmung